Amber

Schon seit Wochen herrscht hier in Flekke mein Lieblingswetter: Sonne, blauer Himmel und eine gute Portion Wind. Die Sonnenstrahlen sind intensiv genug für rote Schultern und Wangen und eine Sommersprossenexplosion auf so manchem (skandinavischen) Nasenbein. Eben komme ich von der Insel, dem zauberhaftesten Ort am College. Dort habe ich mich im vergangenen Herbst auf meine mündlichen Deutschprüfungen vorbereitet und Gedichte analysiert und ganz zu Beginn meiner Zeit am College nahm mich einer meiner Secondyears nachts mal dort hin mit, um mir zu erklären, warum manche Sterne rötlich und andere bläulich schimmern (später wurde mir klar, dass das seinerseits vielleicht ein gescheiterter Versuch gewesen war, romantisch zu werden - das erinnert mich übrigens an den Song "Romanze" von den Wise Guys).

 

Heute hatte ich den Eindruck, in einem Foto gelandet zu sein, dessen Kontrastwerte mit einem Fotobearbeitungsprogramm verstärkt worden waren. Die Welt war einfach unverschämt grün. Die nordischen Farben haben sich in den letzten Monaten völlig verkehrt. Anders als noch Anfang April ist alles satt mit Farben getränkt. Die Wiesen sind unendliche Flächen violetter Blumen, gespickt mit dem Gelb des Löwenzahns. Ich bin sehr froh darüber, denn nie zuvor war mir so klar, wie sehr meine Stimmung vom Wetter abhängig ist. Mehrmals in der Woche, ironischerweise häufig nach mehrstündigen Prüfungen, zieht es mich und meine (völlig durchgelaufenen) Laufschuhe nach Flekke, was wiederum den netten Nebeneffekt hat, lästige "Prüfungskilos" wett zu machen :D !

 

In dieser Woche werde ich wohl oder übel mit den für mich härtesten Prüfungen konfrontiert werden: Englisch Paper 2, ein Vergleich zweier der gelesenen Bücher hinsichtlich eines unbekannten Details und natürlich den umfangreichen Geschichtsprüfungen. Im Grunde genommen gefällt mir die Atmosphäre, die hier am College während der Prüfungen herrscht. Zwar lebt jeder in seiner eigenen Welt - Wojciech sitzt mit großen gelben Ohrenschützern am Wasser um nicht von den Möwen und allen restlichen potentiellen Störenfrieden abgelenkt zu werden und Tea hat an ihrem Stuhl in der Bibliothek ein Schild angebracht, auf dem es "Please don't talk to me. Chemistry, sorry!" heißt - aber in der Hoegh zu sitzen, in diesem großen lichtdurchfluteten Raum, und mit 80 Mitschülern Mathe zu schreiben oder von Jana in Geschichte abgefragt zu werden, gibt mir das Gefühl, hier Teil eines Ganzen zu sein und nicht nur ein Einzelkämpfer.

 

Ich habe in den vergangenen zwei Jahren gelernt, meine Nervosität vor Examen in extra Motivationsschübe zu verwandeln.

Vor genau einem Jahr, ich sehe uns Firstyears noch vor der Hoegh auf Einlass zu den Matheprüfungen wartend, schlug mein Herz mit Sicherheit schneller als am vergangenen Donnerstag. Besonders in Mathe, meinem "Problemfach" der Unterstufe, in dem ich mehr als einmal eine Fünf nach Hause gebracht hatte, ist mein Selbstvertrauen gewachsen und mittlerweile zähle ich es zu einem meiner Lieblingsfächer. Im IB sind die letzten Aufgaben einer Prüfung häufig die umfangreichesten und anspruchvollsten. Ich hatte eine ganze halbe Stunde für jene Aufgabe und brauchte die auch. Zwischendurch schoss mir "Komm, die knacken wir jetzt" durch den Kopf und ich musste augenblicklich denken, dass der Mensch unter Stress  tatsächlich in alte Verhaltensmuster und lang geübte Schemata zurück verfällt und sich eben nicht auf Englisch sondern in seiner Muttersprache motiviert - was übrigens funktioniert hat, denn die Aufgabe hatte ich rechtzeitig gelöst um noch einmal alles durchzulesen.

 

Aber all die bewältigten Schwierigkeiten und alle Erfolgserlebnisse müssen schnellstmöglich in einen scheinbar unzugänglichen Teil des Gehirns verschoben werden, damit alle Konzentration sofort auf die neuen Herausforderungen gelenkt werden kann. "Feucht auswischen" nennt mein Papa das. Es macht wirklich wenig Sinn, während einer Englischklausur die Berechnung eines maximalen Flächeninhalts eines trapezförmigen Fensters noch einmal zu überdenken. Vielmehr ist jetzt Zeit für den "Herr der Fliegen" und "The Wars", "Schöne Neue Welt" und "The Island" (Theaterstück). Meine zahlreichen Arbeitsflächen füllen sich langsam aber sicher mit Klebezetteln voller Zitate, Mindmaps zur Figurenanalyse und Skizzen von Aufsätzen. Ich muss mich schon jeden Tag daran erinnern, die Bücher nicht auch mit in die Kantine zu nehmen - was sich aber trotzdem irgendwie nicht vemeiden lässt.

Da ich es mir angewöhnt habe, meinen Kalender nicht nur mit Plänen sondern auch mit Rückblicken und Ermahnungen zu bestücken heißt es dort zum Beispiel für Sunday, 8 May: "Get up, dress comfortably, find a nice spot, make tea and study 'The Wars'" und ein knall-organener Klebezettel posaunt mir beim Aufschlagen von Woche 18 "This day is going to be REALLY GOOD! Leben, ich komme!" entgegen. Wenn ich es mir genau überlege, ist das fast schon ein bisschen lächerlich. Aber was tut man nicht alles, um erstens den Moment irgendwie festzuhalten und zweitens in der Welt der Bücher noch einen Ansporn zu haben...?!

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