Sleeping in

Zum Schuljahr gehören neben dem wochenlangen Büffeln auch die Ferien. Ein Schuljahr ohne Ferien wäre wie lauwarmer Sprudel, mehlige Äpfel oder Klettverschluss, der vor lauter Fusseln nicht mehr haftet.

In meinen ersten - und letzten - UWC-Ferien nutze ich auch die Gelegenheit, Mitschüler mal ganz abseits vom Internatsleben kennen zu lernen. Nächste Woche fliege ich nach Kroatien und verbringe die folgenden Tage in dänischer und bosnischer Gesellschaft, aber zuvor stand noch ein ganz anderes UWC-Nachtreffen im Kalender: Der Besuch bei einem sehr guten Freund in Norddeutschland, der in Hong Kong das UWC besucht. Im College Jargon würde man ihn "Coyear" nennen, wer sich seinem aktuellen Umfeld anpasst übersetzt ganz frei: "Parallelklässler". Manche Menschen kennt man nicht lange und steht ihnen doch nahe, ein Phänomen, das in der viel gepriesenen UWC-Familie wohl häufiger auftritt.

Ich genoss es, so selbstverständlich bei ihm und seiner Mutter unterkommen zu können. Ich genoss die Unabhängigkeit, die mich durchströmte. Ich konnte quasi kommen und gehen wann mir danach der Sinn stand, wir hatten ein Auto zur Verfügung und nutzten es für Ausflüge an den Timmendorfer Strand und nach Lübeck, wir gingen spät schlafen und standen spät auf. Es war diese Ferienfaulheit, oder Ferienfäule, die von uns Besitz ergriff.

Der Höhepunkt unseres Programmes war der Tagestrip nach Lübeck, eine mir bis dato noch unbekannte Stadt, die mich sofort für sich gewinnen konnte. Schon die Fahrt raus aus Ratzeburg war schön, die Straßen führten an den typisch norddeutschen Kornfeldern vorbei, wir priesen die Klimaanlage und das Radio spielte, wie könnte es anders sein, Fußballlieder. Deutschland hatte Argentinien besiegt, das Halbfinale stand bevor und alles woran man in Deutschland zweifelte war die Authentizität des Kraken.

In Lübeck verbrachten wir einige Zeit im Holstentor und ließen uns auf eine recht aufwändig gestaltete und durchaus empfehlenswerte Ausstellung in dessen Räumen ein. Ein großes dreidimensionales Modell vom alten Lübeck war einer grobe Erstorientierung sehr zuträglich, besonders interessant war auch die alte Deutschlandkarte aus dem Hansezeitalter, als Lübeck Herzstück des deutschen Seehandels war. Am spektakulärsten waren natürlich die ausgestellten Folterinstrumente und ein Keuschheitsgürtel - trotz der Vertrautheit des Begriffes hatte ich eine derartige Vorrichtung noch nie gesehen. Das, was uns eigentlich abstößt war wieder einmal anziehend.

Lübeck selbst bezaubert bei gutem Wetter durch die Altstadt mit ihren vielen kleinen Hinterhöfen, Rosensträuchern und Kirchtürmen. Die Skyline von Lübeck - wir konnten sie schon vom Auto aus sehen und sind dann auch in eine der Kirchen rein gegangen. Sie war "ausrangiert" und umgestaltet worden. Die Heiligkeit, die der Raum ausstrahlte rührte wohl von der Weißheit der kahlen Wände und der Höhe des Gewölbes her. Der Raum war, abgesehen von einigen abstrakten Bildern, leer. An der Decke waren segelartig Tücher gespannt. Ich verbrachte einige Minuten in diesem Raum, staunte über die Ausstrahlung eines Ortes, der trotz Entweihung nicht seine Magie verliert. Vielleicht wurde sie durch die vorwurfsvolle Leere gar verstärkt?

Wir warfen später einen Blick in staubige Kisten auf einem Flohmarkt in einem dunklen und noch staubigerem Hinterhof (fanden ein Buch über die Kunst des Handlesens, kauften aber natürlich nicht - meine Karrierelinie ist nämlich nicht vorhanden und daran will ich nicht ganz glauben!) und standen noch einige Minuten auf dem Marktplatz, händeringend nach dem Wort "Zunft" suchend. Gilde, Gewerkschaft - uns war klar woran uns die Wappen an den Wänden der Häuser erinnerten, aber nach einem Jahr im Ausland ist "Es liegt mir auf der Zunge" wenn nicht alltäglich, dann doch häufiger geworden.

Auf der Suche nach der perfekten Gasse für ein Foto erkundeten wir die verwinkelte Altstadt weiter. Glücklicherweise ist mein Begleiter nicht orientierungslos wie ich und war auch schon häufiger in Lübeck, ich konnte also bedenkenlos rechts und links schauen ohne auch nur ansatzweise Gefahr zu laufen, nicht zum Auto zurück zu finden.

Abends, wieder zurück, verbrachten wir noch einige Zeit beim Griechen, der für seine Döner bekannt ist - so bekannt, dass er fast ausverkauft war und für mich alles was er an Salat noch hatte zusammenkratzte. Ich soll ihn weiterempfehlen. Holland schlug Uruguay und wir lümmelten uns mit Pepperoni und Schafskäse aufs Bett - herrlich, diese Ferien!

Und doch zog es mich nach einigen Tagen wieder nach Hause, denn das Halbfinale Deutschland- Spanien wollte ich daheim genießen, bei Fangesängen und in einer großen Gruppe. Haben die Spanier den Kraken gekauft? Wir haben ihm mit Cocktails zugeprostet.

Angelika

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Kommentare: 1
  • #1

    Hanne Soulis (Montag, 12 Juli 2010 10:48)

    Liebe Angelika,

    auch wenn Du angeblich keine Karrierelinie hast, ich wüsste einen Beruf für Dich: Journalistin oder Schriftstellerin. Es ist ein absoluter Genuss, Deine Blogs zu lesen.

    Und auch wenn der Krake Recht hatte, die Jungs haben gut gespielt - und sie sind ja noch jung. Dann klappt es vielleicht beim nächsten Mal.

    Lübeck war übrigens in meiner Jugend meine Lieblingsstadt (komme nämlich ursprünglich aus dem hohen Norden).

    Jetzt wünsche ich Dir noch eine wunderschöne Sommerferienzeit, freue mich auf Deinen nächsten Blog und grüße Dich ganz herzlich.

    Hanne